Lindau: 50 Jahre nach Münchner Olympia-Attentat

2022-09-09 18:31:18 By : Mr. Alin zheng

Diesen Montag, 5. September, ist der 50. Jahrestag des Münchner Olympia-Attentats. Bis heute sind noch viele Fragen zu den Ereignissen von damals offen. Der Lindauer Wolfgang Harder war damals Teilnehmer eines Olympischen Jugendlagers und erlebte den Tag hautnah vor Ort mit. Ein Augenzeugenbericht.

Wir sind früh dran, an diesem 5. September 1972. Schon um sieben Uhr morgens klettern wir aus dem Linienbus, der uns vom Hasenbergl an die Haltestelle Olympiazentrum gebracht hat. Wir, das sind sechs Teilnehmer eines Internationalen Jugendlagers am Hasenbergl, die Karten für eines der Halbfinal-Spiele im Volleyball ergattern wollen. Den Tipp mit den Tickets hatten wir in unserem „Dorf“ aufgeschnappt.

Unser „Dorf“ bilden 132 Zelte, die im Form der Olympischen Ringe aufgebaut sind. 2000 jugendliche Besucher der Olympischen Spiele 1972 sind dort untergebracht, alle für eine Woche inklusive Vollverpflegung und zusätzlich versorgt mit drei Eintrittskarten. Mit der Errichtung und dem Betrieb der Zeltstadt ist das Technische Hilfswerk (THW) beauftragt. Und weil mein Vater THW-Ortsbeauftragter in Lindau ist und die THW-Helfer vom Bodensee maßgeblich am Aufbau beteiligt sind, komme ich in den Genuss, dort eine Woche lang die Olympischen Spiele „hautnah“ mitzuerleben. Um die Voraussetzung zu erfüllen, macht mein Vater mich bei der Anmeldung ein Jahr älter.

So ein Erlebnis kommt so schnell nicht wieder.

Wie recht er hat, erlebe ich vor Ort im wahrsten Sinne des Worts. Meine zugeteilten Eintrittskarten vermitteln mir schnell olympisches Flair, auch wenn es sich nur um einen Vorkampf bei der Leichtathletik im weiten Rund des Olympiastadions und ein Handballspiel in der Olympiahalle handelt. Olympia der kurzen Wege schlägt die Besucher in seinen Bann.

Auch meine kleine Gruppe ist an diesem Morgen des 5. Septembers noch ganz beseelt. Am Vorabend avancierte eine unbekannte Hochspringerin zu einem Star. Ulrike Meyfarth, 16 Jahre jung und 1,88 Meter groß, gewinnt Gold. Mit Weltrekord! Wir schwärmen noch von der Leverkusenerin, als uns die vielen Polizisten vor dem Olympischen Dorf auffallen.

Das müssen wir umrunden, um vom Busbahnhof zur Volleyball-Halle mit der Vorverkaufsstelle zu gelangen. Genau auf dieser Route umstellen nun Uniformierte das nur mit einem mannshohen Maschendraht gesicherte Olympische Dorf. So nach und nach erfahren wir von den Polizisten, warum sie da sind: Terroristen seien gegen fünf Uhr morgens ins Dorf eingedrungen, hätten Geiseln genommen. Schüsse seien auch gefallen, erzählt einer der Polizisten. Mehr wisse er aber nicht.

Die Vorverkaufsstelle öffnet an diesem Tag nicht mehr, wir verfolgen das Geschehen den ganzen Vormittag aus nächster Nähe. Der Kolehmainenweg, benannt nach einem finnischen Langstreckenläufer, der 1912 drei Gold- und eine Silbermedaille gewann, erlaubt uns – trotz der immer zahlreicher eintreffenden Polizisten – einen nahezu unverstellten Blick ins Olympische Dorf: Rechts die Flachbauten der späteren Studentenwohnungen, etwas weiter hinten die Hochhäuser-Zeilen am Helene-Meyer-Ring und direkt vor uns die Connollystraße.

In der Nummer 31 sind die Mitglieder der israelischen Mannschaft untergebracht, wie wir aus einem Transistorradio erfahren, das ein Mitbeobachter der Allgemeinheit zum Mithören zur Verfügung stellt. Laut Radio-Informationen halten fünf Terroristen zehn oder auch mehr Israelis als Geiseln gefangen. Auch zwei Tote soll es gegeben haben. Gefordert werde die Freilassung von in Israel inhaftierten Palästinensern. Genaueres wisse man nicht, ein Krisenstab sei gebildet worden, und man versuche Kontakt zu den Geiselnehmern zu bekommen.

Unterdessen wächst die Besucher-Ansammlung auf dem Kolehmainenweg weiter an. Viele sind auf dem Weg in den Olympiapark: ins Stadion, die Olympiahalle oder die Bahnradhalle. Alle wollen bei den heiteren Spielen dabei sein. Noch gehen die Wettkämpfe unverdrossen weiter. Olympia lässt sich so schnell nicht stören. Noch nicht.

Viel tut sich auch nicht im Olympischen Dorf. Nur einige aufgeregte Rufe lassen uns immer wieder aufschrecken. Beobachter wie wir glauben, einen Terroristen auf dem Balkon der Connollystraße 7 gesehen zu haben. Ich erkenne in der Ferne zwar eine Gestalt, kann die Figur mit bloßem Auge aber nicht einordnen.

Dafür erkennen wir sofort den schlanken jungen Mann mit Schnauzbart, der gerade eiligen Schrittes das TV-Zentrum – unmittelbar neben dem Olympischen Dorf gelegen – verlässt. Mark Spitz, der am Abend zuvor seine siebte Goldmedaille in der Schwimmhalle gewonnen hat und jüdische Wurzeln aufweist, springt in ein bereitstehendes Taxi. Seine mehr oder weniger bulligen Begleiter in dunklen Anzügen steigen am Wendehammer vor dem TV-Zentrum in zwei wartende Limousinen ein. Hollywoodreif, also mit durchdrehenden Reifen, rast der Konvoi davon. Der Superstar verlässt Olympia!

Wir rätseln noch darüber, warum um Himmels Willen der offensichtlich um seine Sicherheit besorgte US-Amerikaner in einem profanen Taxi Platz nimmt. Dabei stehen Sicherheitsleute bereit, obendrein Limousinen mit CD-Kennzeichen (CD = Corps Diplomatique). Unter dem Eindruck dieser „Flucht“ gewinnen wir langsam die Erkenntnis, welche Dimension das Geschehen inzwischen eingenommen hat. Als dann auch noch am Nachmittag alle Wettkämpfe unterbrochen werden – unterbrochen und nicht abgebrochen, wie es ausdrücklich in einer offiziellen Erklärung heißt – ist es Zeit für uns, den Tatort zu verlassen. Wir kehren in unser Zeltdorf zurück.

Dort verfolgen wir die weitere Entwicklung am Fernsehschirm, gemeinsam mit ein paar hundert Bewohnern des Jugendlagers im hoffnungslos überfüllten TV-Zelt. Sehen die Verhandlung von Innenminister Hans-Dietrich Genscher, Bayerns Innenminister Bruno Merk und Walther Tröger, dem Bürgermeister des Olympischen Dorfs, mit dem Chef der Terroristen, der mit einer Handgranate in der Hand herumfuchtelt. Sehen später, wie die Hubschrauber mit Geiseln und Terroristen an Bord abheben und – wie es heißt – Richtung Flughafen Riem fliegen. Kurz nach Mitternacht kommt dann die erlösende Nachricht: alle Geiseln befreit, alle Terroristen getötet oder in Gewahrsam. Aufgewühlt, aber auch erleichtert über das anscheinend glückliche Ende ziehen wir uns in die Stockbetten unserer Zelte zurück.

Die traurige Wirklichkeit erfahren wir nach einer kurzen Nacht am nächsten Morgen. Bei einem Befreiungsversuch am Militärflughafen Fürstenfeldbruck sind alle neun Geiseln getötet worden, auch ein Polizist, ebenso fünf Terroristen. Drei Geiselnehmer sind festgenommen worden. Für den Vormittag ist eine Trauerveranstaltung im Olympiastadion angesetzt. Dort sagt Avery Brundage, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), den historischen Satz: „The Games must go on“. Die Spiele müssen weitergehen.

Was in jener Nacht vom 5. auf den 6. September genau geschah, habe ich erst viel später erfahren, dafür aus erster Hand. Ab 1980 arbeitete ich für den Sport-Informations-Dienst (SID), zunächst als Volontär, dann als Redakteur. Zwei SID-Redakteure waren 1972 Augenzeugen des eineinhalbstündigen Schusswechsels in Fürstenfeldbruck.

Ziemlich genau an jener Stelle auf dem Kolehmainenweg, an dem wir Jugendlager-Teilnehmer vor 50 Jahren diesen 5. September verfolgten, ist am 6. September 2017 der Erinnerungsort Olympia-Attentat in Anwesenheit der Staatspräsidenten Reuven Rivlin (Israel) und Frank-Walter Steinmeier (Deutschland) eröffnet worden.