Am Abend war die Hoffnung da. Beim Anblick der zerstörten Villa des Apothekers Jansohn am Museumsplatz überfiel sie ihn. Die Südfront war weggerissen worden, an der Nordseite hatte eine Bombe ein Loch in die Klinkersteinfassade gestanzt. Als Horst drei Tage nach dem Fliegerangriff vom siebten Januar neunzehnhundertvierundvierzig am Brückengeländer lehnte, konnte er alle drei Etagen des Apothekerhauses betrachten. In nicht ganz neun Wochen würde er elf Jahre alt werden, und in einem solchen Haus, das nahm Horst sich in diesem Moment vor, würde er später einmal leben.
Wie viele Stuben es dort drinnen wohl gegeben hatte? Auf dieser Seite ließen sich drei pro Stockwerk ausmachen, bei dem breiten Bau mussten es auf der anderen Seite mindestens ebenso viele gewesen sein. Drei mal drei macht neun, das rechnete er mit den Fingern aus, noch mal drei mal drei macht wieder neun, und neun plus neun, das sind … nicht zu fassen! Von der Einrichtung war nichts übrig, natürlich, doch Geröll und Trümmer waren auf dieser Seite schon fortgeräumt, sodass Horst bloß seiner Fantasie freien Lauf lassen musste, und schon erwachte das Leben.
Wofür der alte Jansohn mit seiner Frau und den paar Kindern so viel Platz gebraucht haben mochte, wo Horst sich im Heim mit zehn Kameraden einen einzigen Raum teilte? Nun, Horst war ein Waisenhauszögling, und der Herr Jansohn, der war Apotheker, also musste diese Villa etwas mit seinem Beruf zu tun haben. Womöglich hatte der Mann sich als Zehnjähriger auch mit zehn Kameraden oder Geschwistern einen Schlafraum geteilt, und weil er fleißig gewesen war, hatte er sich dieses Haus gebaut, oder nein: Er hatte es sich bauen lassen, was freilich noch besser war, und eines Tages, wenn der Endsieg da und Kaiserslautern wiederaufgebaut wäre, würde Horst es dem Herrn Jansohn nachtun.
Dafür durften sie ihn keinesfalls kaschen. Also riss er sich nach Einbruch der Dunkelheit los von der Aussicht auf sein Erwachsenenleben. Horst zog seine Batschkapp tief ins Gesicht und ging hinüber zur Kammgarnspinnerei. Er kam am Eingang zum Bunker vorbei. Auf dem Kellerfenster waren von außen die mit weißer Farbe aufgeschriebenen Buchstaben SR zu sehen. Es war der Schutzraum, den er seit dem Beginn des Bombenterrors Dutzende Male aufgesucht hatte, ohne dass mehr als ein paar Sprengkörper eingeschlagen waren. Feucht und stickig war die Luft dort unten, und weil die Leute ihre Angst zwischenzeitlich schon fast vergessen hatten, waren die verheerenden Angriffe vom siebten Januar umso schrecklicher gewesen. Es gab Arbeiter, die beim Einquartieren halfen, Leute aus einem Land namens Ukraine, von dem Horst in der Schule erfahren hatte, dass es nun zum Deutschen Reich gehörte, was ihn noch immer verwirrte, denn diese Menschen sprachen überhaupt kein Deutsch. Eine Frau mit blonden Zöpfen, Anusch hieß die, hatte Horst seit Monaten nach jedem Fliegeralarm dort unten in die Arme genommen und immerzu das gleiche Lied mit beunruhigendem Klang gewispert, dessen Text er nicht verstehen konnte, das ihn aber an seine Mutter denken ließ.
Vor drei Tagen, als zum ersten Mal wirklich der Lärm der Flugzeugmotoren und der Bomben durch den Luftschacht gedrungen war, da kam der Bunkerwart heran und schlug Anusch mit seiner kurzen Peitsche ins Gesicht. Die Haut platzte auf, das Blut nahm eine finstere Farbe an, und der Mann brüllte: »Schaff dich enaus, du Drecksau!« Mit ihren feuchten Lumpen um die Füße trat Anusch in die Bombennacht, und Horst hatte sich vorgenommen, sie zu finden, tot oder lebendig. Wenn sich rund um die Spinnerei, wo es keine Trümmer und keine Sucher gab, heute Nacht vom Boden etwas abgreifen ließ, und sei es ein im Davonlaufen verlorenes Zigarettenetui, dann hätte sich der Ausflug hierher bereits gelohnt.
Außer ein paar Kippenstummeln fand Horst nichts, auch von Anusch keine Spur, also stapfte er zurück in Richtung Stadtkern. Überall in der Umgebung der Einschläge waren die Fensterscheiben eingedrückt von den Druckwellen der Sprengbomben, oft fehlten die Dächer. Aus den heil gebliebenen Häusern drang kein Licht, nur der Schein der letzten Laternen fiel auf die Straßen. Nichts war zu hören außer dem Klopfen der Holzsohlen seiner Schweinslederschuhe auf dem Trottoir. Oder? Da war noch was. Hallten ihm seine eigenen Schritte nach? Hinter ihm war was. War jemand. Starr vor Schreck stand Horst da, das Geräusch schien sich zu nähern, da sprang er am Altenhof ins Trümmerfeld der Villa Orth. Unter seinen Füßen zerbrach das gefrorene Gras bei jedem Schritt wie dünnes Glas, hinter einem der Schutthaufen duckte er sich, hielt Mund und Nase zu und hörte, wie sich Schritte näherten. Nun schloss er auch die Augen, denn er spürte, dass jemand vor ihm stand, dunkel, leise. Jetzt haben sie mich, dachte er, doch als er blinzelte, waren da bloß zwei ärmlich behoste Beine. Er hob den Kopf, da stand ein junger Mann mit einem umgeschneiderten Wehrmachtsmantel.
»Was machst du hier?«, fragte der Mann, der selbst fast noch wie ein Kind aussah. Nur seine große Nase verlieh ihm den Anschein eines Erwachsenen. »Weißt du nicht, dass wieder Alarm kommen kann?«
Horst gab keine Antwort. Was hätte er auch sagen sollen? Dass er abgehauen war, weil ihm der Sinn nicht nach täglichem Siebenstriem stand? Dass er auf der Suche war nach Anusch, die ein Bunkerwart ins Verderben geschickt hatte?
»Seit wann ist es Halbwüchsigen erlaubt, nachts durch die Stadt zu stromern? Willst du die Fliegergeschädigten bestehlen? Oder bist du ein Fliegergeschädigter? Dann zeig deinen Fliegergeschädigtenausweis! Und nimm die Batschkapp ab, oder bist du ein dreckiger Jud?«
Horst versuchte es mit einer Gegenfrage: »Wer sind Sie?«
»Brandwache. Ich mache die Nachtschicht, seit zwei Tagen schon. Wenn ich meinen Dienst weiterhin anständig ableiste, darf ich zur HJ-Feuerwehr, bald, wenn ich sechzehn bin.«
»Nun sag schon: Was treibst du hier? Wo sind deine Eltern? Wo wohnst du? Wenn du die Auskunft verweigerst, muss ich dich melden. Bei der Volkswohlfahrt haben sie Methoden, glaub mir.«
»Bist also doch ein Jud?«
»Nein, ich bin kein Jud.«
»Was soll dann die Geheimniskrämerei?«
Er musste sich schnell etwas einfallen lassen, was ihm bei der Kälte schwerfiel. Statt zu reden, fing er an zu husten.
»Was ist los, hast du Tbc?«
»Ha«, sagte Horst, spuckte in die Hände und sagte: »Sehen Sie Bazillen?«
»Dumm und frech bist du auch noch. Wann war deine letzte Untersuchung?«
Der Mann zerrte ihn hoch: »Mitkommen!«
»Nein«, sagte Horst, »warten Sie. Ich erklär es Ihnen.«
»Dann raus mit der Sprache.«
Beim Betrachten dieses Nazis kam Horst eine Idee.
»Ich wohne im Heim«, sagte er, »weil meine Eltern fort sind.«
»Nein, nein«, sagte er, »mein Vater ist in Dachau. Seit Jahren schon. Er ist … er war arbeitslos.«
»So? Ein Asozialer. Da hat mich mein Gespür doch auf die richtige Fährte geführt«, sagte der Mann und reckte seine fleischige Nase in den Nachthimmel.
Nun begann der Teil der Erzählung, der Horst wirklich wehtat.
»Mein Vater ist ein arbeitsscheuer Trinker. Gut, dass der im Lager ist, ich mag den nie mehr wiedersehen«, sagte er, bemüht um einen aufrichtigen Ton.
»Was ist mit der Mutter? Ist die auch in Dachau?«
»Red schon. Wenn ich dir erst jedes Wort aus der Nase ziehen muss, nehm ich dich gleich mit.«
Horst presste die Lippen zusammen: »Meine Mutter war eine Hure«, sagte er, »darum hat mich ja die Fürsorge geholt. Und vor drei Tagen, nachdem die Flieger fort waren, da haben sie mich zum Kotten geschickt, wo unser Mietshaus in Trümmern lag.«
»Hast dich nützlich gemacht und Steine weggeschafft?«
»Das auch«, sagte Horst, der kämpfen musste, damit die Stimme ihm blieb, »da lagen die Leichen, aufgereiht in der Straße. Ich sollte vorübergehen und schauen, ob meine Mutter unter den Opfern ist.«
Nie hätte Horst gedacht, dass das Lügen so viel Kraft kosten könnte.
»Am Gesicht hab ich sie nicht erkannt«, sagte er. »Viel zu stark verbrannt. Darum brauchten die Schutzmänner mich. Sie trug ihr Marienkäferkleid und den dicken Armreif. Von beidem war mehr übrig als von ihrem Gesicht. Haben den Leichnam dann in einen Waschzuber verfrachtet, so geschrumpft war der.«
Horst sah sich dem prüfenden Blick dieses Mannes ausgeliefert. Er hielt ihm nicht stand und musste hoffen, dass der Kerl dennoch anbiss.
»Und nun bist du aus der Fürsorge getürmt. Weißt du, was dir blüht, wenn sie dich erwischen?«
»Im Heim kann ich mich doch nicht nützlich machen. Arbeiten will ich, für den Endsieg und dafür, dass ich mir irgendwann ein Haus bauen lassen kann, so eins wie die Villa Jansohn am Museumsplatz.«
»So? Das gefällt mir. Ein Ziel im Leben muss man haben.«
»Anständig bleiben«, sagte der Mann.
»Alles andere kommt von ganz alleine.«
»Man kann sich auch überschätzen. Wie willst du denn ans Ziel kommen?«
»Ich kenne das Reichsbürgergesetz«, sagte Horst. »Haben sie uns in der Kottenschule beigebracht. Reichsbürger mit vollen Rechten darf sein, wer deutschen oder artverwandten Blutes ist und durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treue dem deutschen Volk zu dienen.«
»Wenn deine Eltern Asoziale sind, bist du auch asozial. Hast wohl keine Ahnung von Erbgesundheit.«
»Sie sollten mich mal sehen! Unterricht findet seit Tagen nicht statt, von meinen Kameraden hat niemand so viele Fenster repariert wie ich. Und am Abend räume ich mit den Erwachsenen noch die Fliegerschäden weg. Mein Blut muss arisch sein!«
Der Mann musterte Horst mit einem schwer zu deutenden Blick. Dann nahm er zwei Zigaretten aus der Tasche und bot Horst eine an.
»Donnerwetter«, sagte Horst, »wie kommen Sie denn zu so etwas?«
Die Zigaretten waren halb aufgeraucht und leicht zerdrückt. Horst hatte sofort erkannt, dass der Kerl sie nicht etwa einem Zugang zu wichtigen Leuten verdankte, sondern beim Kippenstechen auf der Straße gefunden haben musste. Als er das Streichholz entzündete, blickte der Mann stolz und sagte: »Hast du den Ariernachweis?«
»Ich weiß nur, dass ich nicht wieder ins Waisenhaus kann. Dort wartet wohl der Karzer auf mich, im besten Fall.«
»Pass auf«, sagte der Mann, »ich glaub dir.« Er legte ihm die rechte Hand auf die Schulter, näherte sich seinem Ohr und flüsterte: »Weißt du, wir haben mehr gemeinsam, als du vielleicht denkst.«
Horst suchte mit den Augen das Trümmerfeld nach etwas Griffigem ab, das er dem Kerl über den Schädel ziehen konnte zur Not. Der aber sank nun herab, setzte sich neben ihn und zog an seinem Zigarettenstummel.
»Mit den Eltern hat man es nicht leicht«, sagte er. »Meine sind beide Kommunisten. Vater verlor seine Anstellung in der Tischlerei und kam dann ins Strafbataillon. Hat er nicht überlebt. Und die Mutter, elende Bolschewikin, lernt nicht dazu. Ins Heim gegeben hat die mich, einfach so. Keine Liebe zum Vaterland, keine Witwenrente, keine Arbeit. Dabei bin ich ganz anders. Anständig.«
»Hmm«, sagte Horst, dem nichts weiter einfiel; am wichtigsten erschien ihm ohnehin das Schweigen, damit der Mann nicht doch noch misstrauisch würde.
»Bei uns im Heinrichstift gibt es eine Scheune mit Unterboden«, sagte der nach einer Pause. »Da kommt kaum mal wer hin. Womöglich kriegen wir dich dort unter für eine Zeit lang. Mach dir keine Sorgen. Kein Deutscher bleibt zurück, das sagen sie uns doch immer.«
»Ist das nicht gefährlich?«, fragte Horst.
Der Mann sah ihn verwundert an: »Wir sind anständige Deutsche. So kurz vor dem Endsieg würden die in deinem Waisenhaus das nicht begreifen. Aber danach werden sie mir einen Orden verleihen für die Rettung eines arischen Jungen, da kannst du dich drauf verlassen.«
Er stand auf und sagte: »Du musst mir aber deinen Namen verraten.«
Horst musterte ihn von oben bis unten. Noch immer konnte er sich keinen Reim darauf machen, warum der Mann ihm seine Hilfe anbot.
»Horst heiße ich. Horst Baron. Und Sie?«
Christian Baron, geboren 1985 in Kaiserslautern, lebt als freier Autor in Berlin. Nach dem Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier arbeitete er mehrere Jahre als Zeitungsredakteur, unter anderem für das Feuilleton des nd und den Politikteil des Freitag . Ausgehend von einem Text über seinen Vater in dieser Zeitung (Ausgabe 10/2019) erschien 2020 bei Claassen sein literarisches Debüt Ein Mann seiner Klasse, wofür er den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Literaturpreis „Aufstieg durch Bildung“ der noon-Foundation erhielt. Die von ihm zusammen mit Maria Barankow herausgegebene Anthologie Klasse und Kampf erschien 2021, ebenfalls bei Claassen.
Am Nachthimmel segelten die letzten Sterne, ehe sie hinter den Wolken verschwanden. Spät war es geworden. Das hatte er nun davon. Die Schufterei auf der Baustelle am Postgebäude vor dem Hauptbahnhof schlauchte ihn mehr, als er erwartet hatte. Aber Willy war froh, überhaupt noch dabei sein zu dürfen, nach dem Zores auf der Neumühle. Und überhaupt, die Arbeitslosigkeit bei Zimmerleuten stieg seit Jahren, offenbar hatte inzwischen jeder sein kleines Häuschen gebaut, und genug Geschäfte gab es in der Stadt auch, wenn man der Rheinpfalz glauben konnte. Bei Schmidbauer hatten sie gerade erst ein Dutzend entlassen, bei Bolzmann waren’s letztes Jahr noch mehr, was willste machen. Habbelrath kam noch ganz gut über die Runden, und Willy schätzten sie dort besonders, weil er ständig Überstunden machte, ohne zu murren. Seit sie den Akkordzuschlag abgeschafft hatten, machten sich einige einen schönen Lenz, aber nicht Willy. Morgens stand er früher auf dem Bau als alle anderen, und er zog die Cordweste erst aus, wenn die Männer schon beim Feierabendbier saßen.
Angst um seine Stellung hatte er im Moment keine, einstweilen brauchten sie ihn noch. Vierundvierzig war Willy, außer ein bisschen Rückenschmerzen hatte er nichts, gar nichts, er fühlte sich fit wie ein Dreißigjähriger. Doch die geringste Schwäche oder der kleinste Fehler genügten, ein paar verkantete Dübel, und sie würden sich irgendeinen jungen Dudderer suchen und einen guten Mann aufs Altenteil schieben, das kann schneller gehen, als du denkst, gerade hast du noch dein kühles Vormittagspils aufgeploppt, und plötzlich gehst du stempeln statt schaffen.
Willy hob die Nase, schnupperte gen Norden, Richtung Erzhütten, heimwärts, es roch nach Regen und Donner und Blitz. In den Bäumen raschelte es, der Himmel sah alt aus. Willy schob den Reißverschluss seines gewitterdunklen Mantels nach oben und zog seinen taubengrauen Hut tief ins Gesicht. Er fühlte sich nicht wie ein Prolet, der aus der Kneipe kam, eher wie ein Privatdetektiv bei einer Erkundung.
Raschen Schrittes durchquerte Willy den Kotten, das Arbeiterviertel, das sie bei den Fliegerangriffen im Jahr vierundvierzig komplett zerstört und nach dem Krieg wiederaufgebaut hatten. Hier kannte ihn jeder Zweite, mindestens, und in einer milden Nacht Mitte März lungerten die Arbeitslosen und Tunichtgute gern bis in die Puppen draußen herum, da grüßten sich entfernte Bekannte wie uralte Freunde, Willy stierte auf den Asphalt und ließ sich durch keinen noch so vertrauten Ruf beirren.
Bei der Alten Brücke konnte er sich die Krempe seines Hutes endlich wieder aus dem Sichtfeld schieben, denn der eine Teil der Barackler von der Berliner Straße war im Tiefschlaf, und der andere saß in den Destillen ringsum. Durch ein Wolkenloch brach der Mondschein und malte die Birkenblätter an. Da lag noch immer dieses Rasenstück, auf dem sie als Buben gesessen hatten, bis in die Nacht hatten sie Weidenpfeifen geschnitzt und Streiche ausgeheckt, den ganzen Sommer über war niemand in der Nachbarschaft vor ihnen sicher gewesen. Den Alten hatten sie als lästig gegolten, als Asoziale, jeder Weg und jeder Pfad, beinahe jeder Quadratmeter Boden hatte ihre Fußspuren getragen.
Willy sah den Jungen, der er mal war, Schlachtenlieder singend, auf dem Boden lümmelnd, Schläge und Wunden einsteckend, ohne nach dem Warum zu fragen. Er war der Junge, der im Frühjahr die von der Kälte der Eisheiligen überraschten Hummeln mit Zucker aufpäppelte, der im Sommer bis zwei oder drei Uhr nachts rücklings im Gestrüpp lag und im Herbst die Äpfel von den Bäumen pflückte und zwischen wirbelnden Blättern den Weg entlanglief, so energisch wie Fritz Walter im Betzenbergstadion hinter dem Ball her. Er war der Junge, der im Winter mit den Nachbarskindern die Fensterscheiben der Juden einwarf.
Die Wolken verschlangen den Mond, der Schimmer auf den Blättern verblich, Willy kehrte um, schnäuzte sich in eines seiner Stofftaschentücher und ging weiter seines Weges. Die paar Meter durch den Straßenlampendschungel bis zur Neubausiedlung im Pfeifertälchen mochte er besonders.
Regen fiel herab, die Tropfen schienen es nicht eilig zu haben. Willys Fingerspitzen glitten über akkurat gefertigte Gartenzäune. Längst hätte er Eigenheimbesitzer sein können, obwohl er nur ein einfacher Arbeiter war, jawohl, ein einfacher Arbeiter mit eigenem Haus hätte er sein können, wäre er bloß nicht so freigiebig gewesen mit seinem Geld.
Ich bin ein Donnermagnet, dachte er. Manche Leute ziehen Gewitter an. Saugen sie auf wie Katzen den Atem der Neugeborenen. Manche Menschen sind negativ gepolt, andere positiv. Manche glimmen im Dunkeln, andere verlöschen. Willy wusste, zu welcher Art er gehörte.
Ein alter Mann stand an seinem Eingangsgitter. Seine freundlichen Augen schimmerten groß und klar. Er nickte Willy zu, sagte: »Geht bald richtig los, was?« Willy lüpfte seinen Hut und machte sich schleunigst vom Acker.
Den Fischerrück und den Alberichsberg ließ er hinter sich, ohne irgendwem begegnet zu sein. Weit war es nun nicht mehr, ein paar Hundert Meter bergauf zur Talstraße, an deren Anfang zwei breite, mehrstöckige Häuser mit Mietwohnungen standen, eine Enklave der Armen inmitten des großbürgerlichen Viertels auf den Erzhütten, der ältesten Stadtrandsiedlung von Kaiserslautern, wo sich seit Jahren nur noch Neureiche ihre Häuser bauen ließen, von Männern wie Willy, der an beinahe jedem Dach in dieser Ecke eigenhändig mitgewerkelt hatte. Früher, also ganz früher, im achtzehnten Jahrhundert, da erhielten die Anwohner ihren bis heute allen in der Stadt geläufigen Spitznamen: die Hütterer. Damals kamen die ersten Handwerksfamilien hier hoch, die Waldwirtschaft und das Erzbergwerk florierten. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war sogar Napoleon zu Besuch, drüben in der Rütschhofstraße. Später mussten die Hütterer sich Arbeit in den Fabriken der Stadt suchen, sie zogen weg und machten Platz für die, denen es an nichts fehlte. Da fühlten die Mieter der Talstraße sich wie die Unbeugsamen, die den Eindringlingen noch immer Widerstand leisteten.
Fast trocken war Willy an seinem Wohnblock angekommen, da begann es, richtig zu kübeln. Er liebte den Regen im Übergang vom Winter zum Frühling, der roch erdig und süßlich und nach dem Versprechen warmer Tage, und niemals hatte Willy einen Schirm besessen, das war was für Trottel. Von der Haustür aus sah er im ersten Stock das Fernsehgeflimmer. Da konnte er sich noch eine Kippe anzünden. Über die Hutkrempe kullerten die Regentropfen. Drüben im Frisiersalon standen die Trockenhauben im Dunkeln, auf das Morgengrauen wartend, auch Rosi würde sich am nächsten Tag auf den Weg machen, damit ihr Minipli durch die stürmische Zeit kam. Dann würde Willy sich auf Arbeit hinsetzen und im Rundfunk die Vorberichte auf das Spiel des 1. FC Kaiserslautern hören. Zehn Mark hatte er gewettet, auf eine Auswärtsniederlage am kommenden Wochenende in Hannover. Zwei zu zwei hatten sie letztens noch gespielt, daheim gegen Hamburg, mit Ach und Krach. Willy hatte auf eine Pleite gesetzt, das tat er seit Jahren, immer so, wie es die Kassenlage hergab. Wenn die Lauterer verloren, dann ärgerte er sich kaum, weil er was versaufen konnte. Spielten sie unentschieden, dann blieb das Geld schön im Topf. Gewannen sie, dann war Willy die zehn Mark los, genoss aber den Siegestaumel in der Goldmine. Auf alles musste er gefasst sein, das war der Normalzustand, gerade mit seiner Rosi.
In gespannter Stille lag die Küche, nur der Kühlschrank surrte. Willy fand außer rohen Eiern und Streichwurst nichts Essbares, da war Großeinkauf angesagt Samstagfrüh, und wie Willy seine Rosi kannte, würde sie ihn losschicken mit den Mädchen, und dann würden sie ihn zum Schokoladenregal zerren und Rehaugen machen.
Hoffentlich hatte sie ihm was vom Abendbrot übrig gelassen, er hatte ordentlich Qualm. Erst fand er den Lichtschalter nicht, das passierte ihm dauernd, obwohl sie schon fast ein Jahr hier wohnten, aber er wollte keinen Radau machen, also tastete er sich aus der Küche heraus und steuerte das abgedunkelte Wohnzimmer an. Willy näherte sich dem Raum wie einer tickenden Zeitbombe.
Auf dem Sofa saß Rosi, mit dem Rücken zu ihm und eingemummelt in ihre Kuscheldecke, der rechte Arm ruhte auf dem Körper der schlafenden Mira, deren schwarzes Haar über der Couchlehne hing. Im Fernsehen lief eine Wiederholung von Wir Wunderkinder aus den Fünfzigerjahren. Wolfgang Müller und Wolfgang Neuss sangen »Jetzt kommt das Wirtschaftswunder«.
»Jetzt gibt’s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder. Jetzt kommt das Wirtschaftswunder, jetzt kommt das Wirtschaftswunder.«
Willy räusperte sich, da zischte Rosi wie eine Schlange, ohne sich umzudrehen. Müller und Neuss trällerten so leutselig, dass Willy im Rhythmus die Finger gegen die Zarge trommeln ließ.
»Steht noch was zu futtern drüben?«, fragte er.
Rosi trug ihre weiße, suppenbefleckte Schürze. Ihr langer Rock fiel in Falten auf die Strümpfe herab. Sie griff nach der Kornflasche auf dem Marmortisch, schraubte den Deckel ab und ließ mehrere Schlucke die Kehle hinuntergluckern. Was war sie doch für ein kleines Persönchen. Und was verlieh ihr das Trinken doch für eine Kraft.
»So blind kannst nicht mal du sein«, sagte sie, »hast wohl wieder ordentlich gebechert.«
Sie wedelte mit der Hand und trippelte an ihm vorbei. »Komm«, sagte sie, »komm, ich zeig’s dir, du Spatzenhirn.«
Ihr trostloser Ausdruck traf auf das dämmrige Licht der Küche. Willy stieß gegen den Lampenschirm, Rosi musste wegen des herabrieselnden Staubs niesen. Beinahe wäre sie gestürzt, Willy wollte sie festhalten, was ihm sogar gelang. Rosi schlug ihm mit der Hand mehrmals auf den Arm.
»Lass deine Finger fort von mir«, motzte sie, »hier, mach die Augen auf.«
Sie deutete auf die beiden Töpfe, die auf dem Gasherd standen. Willy lupfte die Deckel. In dem einen Topf klebten Tomatensaucenreste, im anderen pappte verschwindend wenig Nudelmatsch.
»Kannst fressen, was übrig ist«, sagte Rosi, nachdem sie noch einen kräftigen Schluck aus der Pulle genommen hatte. »Als ob ich nicht wüsste, wo du dich rumtreibst. Ich mach das nicht mehr mit, ich bin nicht dein Haussklave!«
»Lass gut sein«, sagte Willy. Er fasste nach ihrer Flasche, doch sie zog die Buddel rechtzeitig weg, Willy konnte nicht mehr, ihm knurrte der Magen, und er musste ins Bett, also fingerte er nach der Flasche, Rosi schrie wie am Spieß um Hilfe, aber Willy ließ nicht locker, und dann holte sie aus und donnerte ihm die Kornflasche gegen die Stirn.
Das Blut rann ihm in die Augen, über die Nase, in den Mund, übers Kinn, es sickerte ins Hemd, und sie stritten immer noch um die Flasche, »Hilfe, Hilfe«, sie schlug um sich, das Blut spritzte auf ihre Schürze, aber irgendwann hatte Willy Ernst gemacht, jetzt lag die Kornflasche zerdeppert auf dem Boden, und Rosi war gefangen in den Armen ihres Mannes, sie strampelte und schrie weiter, bis sie irgendwann schwächer wurde.
Im Wohnzimmer standen Mira und Juli, zitternd aneinandergeklammert. Willy ließ Rosi langsam auf den Boden sinken, wo sie sich zusammenkauerte und winselte. Er ging auf die Mädchen zu, sie zuckten zusammen, erst jetzt sah er seine blutverschmierten Hände, die Kinder liefen zurück in die Schlafstube. Willy sank zu Boden, er drückte die Hand gegen die Wunde am Kopf und wusste nicht weiter.
Rosi schluchzte immer leiser und immer weniger, und nach ein paar Minuten zog sie sich an der Spüle hoch. Willy stand auf und wollte ihr helfen, aber Rosi schrie wieder: »Fass mich noch ein einziges Mal an!«
Sie wankte aus der Küche, hinein in den engen Korridor, und nahm den Telefonhörer von der Gabel. Drei Ziffern wählte sie, das bekam Willy mit. Was macht die da?
»Hallo? Ich werde hier verprügelt. Kommen Sie bitte, aber schnell, es ist Alkohol im Spiel, und wenn der Mann sich gleich wieder aufrafft, dann bringt er mich vielleicht um. Kommen Sie, bitte!«
Willy nahm ein weißes Handtuch, zog den Mantel an und verließ die Wohnung.
Es hatte aufgehört zu regnen. Im Vorgärtchen vor dem Mietshaus roch es nach nassem Gras. Willy blickte auf das geöffnete Fenster im Erdgeschoss, wo eine junge Frau saß, die Beine angewinkelt, das Licht des Zimmers hinter ihr. Sie hatte semmelblondes Haar, die Haut war hell und besprenkelt mit Sommersprossen. Ihre Stirn hatte sie gerunzelt. Willy legte eine Hand auf die Metallstreben, er blickte ihr ins Gesicht und sah die kleine Nase. Stupsnase, was für ein schönes Wort, Rosi hatte auch so eine Stupsnase, und als sie sich kennengelernt hatten, bei ihrem ersten Tanz, einem Tango, »Schön ist die Nacht« hieß der, da war Rosi von einem Lachkrampf überfallen worden, und sie hatte gesagt, was sie so witzig gefunden hatte, ja, sie hatte sich vorgestellt, wie witzig es wohl sein mochte, den großen Mann mit dem riesigen Zinken zu küssen, noch nie habe sie so eine fleischige Nase gesehen, aber sie liebte sie, das hatte sie ihm in all den Jahren immer wieder gesagt, sie liebte diese Fleischnase, weil sie diesen Mann mit der Fleischnase liebte, also war es für sie keine Fleischnase, sondern der schönste Rüssel im Gesicht des liebsten Mannes auf der ganzen Welt.
Er stand kaum mehr als eine Minute lang dort unten, dann hörte er die Sirenen, sie wurden lauter, und da traf ihn der Blick der Frau auf dem Fensterbrett. Er musste sich aus dem Staub machen, wenn er nicht zum Gespött der Hütterer werden wollte.
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